Das BAG reflektiert Fehler und resümiert, wie es wirklich war.
Die Grippepandemie im Winter 2009/10, die keine war? Das H1N1-Virus doch nicht so aggressiv wie befürchtet? Dass die Influenzawelle in einigen Bevölkerungsgruppen ankam, aber eben insgesamt anders verlief als von der WHO im Frühjahr proklamiert, wurde jetzt nach einer Evaluation am BAG bekannt gegeben. Besonders häufig und massiv waren Schwangere und Wöchnerinnen erkrankt.
Die Evaluation der Schweinegrippepandemie und die in der Schweiz getroffenen Schutzmassnahmen resümierte Dr. med. Daniel Koch, Leiter Sektion Impfungen beim BAG, kürzlich vor Schweizer Wissenschaftsjournalisten (2010)
Höchste Pandemiestufe schon im Juni
Es war Mitte März 2009, Mexiko-Stadt zählte rasch hintereinander 800 Grippekranke, und schon im April waren dort 20 Tote zu beklagen. Sieben Tage später sprach die WHO von einer «public health emergency of international concern». Es war bewiesen, dass sich das identifizierte H1N1-Virus von Mensch zu Mensch überträgt. Aufgrund dieser WHO-Ankündigung und der nationalen Influenza-Pandemieverordnung der Schweiz hat der Bundesrat am 26. April 2009 die Pandemie proklamiert, so Koch. Aus WHO-Pandemiestufe 3 wird bereits Anfang Mai Stufe 4, aber nur für einen Tag, sofort folgt Stufe 5, und schon Mitte Juni wird die höchste Stufe, Pandemiestufe 6, ausgerufen. Die Welt ist in Aufruhr, nationale Gesundheitsbehörden der meisten Staaten diskutieren Schutzmassnahmen und geben erste Empfehlungen für Reisende heraus. In der Schweiz werden im Juli mit den Impfstoffherstellern GlaxoSmithKline und Novartis Verträge über die Abnahme von über 8 respektive 5 Millionen Impfdosen geschlossen, Entwicklung und Produktion laufen dort auf Hochtouren. Und schon im Herbst, viel früher als erwartet, häufen sich die Grippefälle.
«Man weiss nie, was die neuen Viren machen!»
«Heute wissen wir, dass diese Influenza sehr untypisch verlief», sagte Koch. Erwartet worden war, dass grosse Teile der Erwachsenenpopulation, insbesondere die 30- bis 65-Jährigen, erkranken. Bei dieser Altersgruppe handelt es sich um die Gruppe der Berufstätigen, Krankheitsausfälle in grösserem Rahmen machen sich im öffentlichen Leben markant bemerkbar. Schliesslich zeigte sich aber, dass die Schweinegrippe in dieser Population sogar deutlich schwächer als bei saisonalen Influenzaepidemien ausgeprägt war. Die angekündigte Schweinegrippepandemie blieb im öffentlichen Bewusstsein aus.
Schwangere und Schulkinder ungewöhnlich stark betroffen
Dagegen waren Schulkinder, das heisst die Gruppe der 5- bis 14-Jährigen, in ungewöhnlich hoher Zahl betroffen. Zudem erkrankten Schwangere und Frauen im Wochenbett wesentlich häufiger und zudem schwerer an der Influenza mit dem H1NI-Virus als bei den saisonalen Grippeepidemien. «Schwangere waren im Winter 2009/10 vier- bis sechsmal häufiger als gleichaltrige nichtschwangere Frauen betroffen», betonte Koch. Es seien sehr schwere Krankheitsverläufe dokumentiert mit teilweise bleibenden Komplikationsfolgen, darunter eine Frau in Basel, die heute schwer invalid sei. Die ausdrückliche Empfehlung der EKIF und der gynécologie suisse SGGG, Schwangere ab zweitem Trimester gegen Influenza zu impfen, da sie zur Risikogruppe für Grippekomplikationen (wie alte Menschen und Menschen mit chronischen Erkrankungen) gehören, wurde nicht genügend befolgt. Die Impfung von Schwangeren wird auch für den Schutz des Neugeborenen empfohlen. Wieso das H1N1-Virus aber gerade die Schwangeren so stark getroffen hat, ist unklar geblieben, so Koch. «Man weiss nie, was neue Viren machen!»
«Schwierig war, das Worst-CaseSzenario plötzlich zu korrigieren» Untypisch für die H1N1-Grippe war ferner, dass sie sehr früh, schon im Herbst einsetzte – und dann sehr früh im Winter wieder abebbte. Die Hospitalisationsraten lagen wie in jeder Grippesaison am höchsten bei Säuglingen, Kleinkindern und über 65-Jährigen.
«Im letzten Jahr lag die Sterblichkeit der Influenza aber nicht höher als bei der saisonalen Grippe», ergänzte der Epidemiologe Koch.
Totale Fehleinschätzung durch BAG 2010 mit Daniel Koch
Wie kam es, dass die Situation vom BAG (wie auch von den Gesundheitsbehörden anderer Staaten) so falsch eingeschätzt wurde? «Noch im Juli sind wir davon ausgegangen, dass es zu einer Pandemie in der berufstätigen Bevölkerung kommt», sagte Koch. Damit starteten die Aufklärungskampagnen des BAG und die Einkäufe bei den Impfstoffherstellern, welche bei Pandemierisiko von der Regierung übernommen werden. Zum Herbst 2009 habe es dann einige Pannen bei der Bereitstellung genügend grosser Impfstoffmengen gegeben, räumte Koch ein. Die Ursachen waren vor allem (die schleppenden) Zulassungen der Swissmedic wie auch die ungenügende Koordination zwischen Bund und einigen Kantonen bei der Auslieferung. «Tatsächlich kamen die Zulassungen zu spät. Und dann war das Zuviel nicht mehr rückgängig zu machen.»
Sollte in den nächsten Jahren erneut eine Pandemie drohen, wird man viel gelernt haben, schloss Koch 2010 !
In der «normalen» Grippesaison wie im Winter 2010/11 bleibts – Gott sei Dank – beim alten Rezept: Die Praxisärzte kaufen und verabreichen (in der Regel) selbst den aktuellen Influenza-Impfstoff und übernehmen die Beratung der Patienten. Übrigens, so Koch, seien die saisonalen Influenza-Impfraten bei Ärzten und Pflegepersonal insgesamt immer noch viel zu gering.
Respekt ! Beim Roten Kreuz diente er als Arzt in Kriegsgebieten
Kochs Abteilung ist derzeit fast ausschliesslich mit dem Corona-Virus beschäftigt. Mit seinen Leuten versucht der Arzt, die Krankheit und deren Ausbreitung zu überwachen, er legt Strategien fest und formuliert Verhaltenstipps oder Verordnungen. Sein oberstes Ziel: Die öffentliche Gesundheit vor den Krankheitserregern schützen, mitunter mit sehr einschneidenden, vor kurzem noch kaum denkbaren Massnahmen.
Seinen Einsatz für das Rote Kreuz in Kriegsgebieten wo er höchster Brutalität begegnete soll hier keinesfalls unerwähnt bleiben … Respekt !
Das Krisenmanagement prägt seit Jahrzehnten die Arbeit von Daniel Koch. In solchen Situationen blühe er auf, sagt einer, der ihn schon lange kennt. Bevor Koch zum Bund stiess, war er während fast 15 Jahren für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in der Welt unterwegs, unter anderem im Bürgerkrieg in Sierra Leone. «Es war ein besonders brutaler Krieg mit ganz üblen Taten. Hände wurden abgehackt, Kindersoldaten instrumentalisiert», erinnerte sich Koch kürzlich im «Blick». Nach einer Station in der IKRK-Zentrale, wo er für die Medizin-Programme in Afrika zuständig war, wechselte er 2002 ins BAG. Dort beschäftigte er sich bereits mit der Vogelgrippe und Sars.
Bärbel Hirrle / Gynäkologie, Ausgabe 6/2010
Quelle: Koch, Daniel (Bundesamt für Gesundheit, BAG): Wie die Pandemie verlief. Vortrag während des Gesundheitsseminars 2010 des Schweizer Klubs für Wissenschaftsjournalismus. Thun, 11./12. November 2010.